Schlagwort-Archiv: Dystopie

Wild

wildLena Klassen
Taschenbuch: 384 Seiten
Erscheinungstermin: 11. März 2013
Verlag: Drachenmond
ISBN: 978-3931989798

Lena Klassen ist mir nach der Lektüre von Magyria über Jahre hinweg in Erinnerung geblieben. Und das als Autorin, die aus meiner Sicht einen der besten Literaturküsse zu Papier gebracht hat, den ich als Leserin je miterleben durfte. Deshalb kam ich selbstverständlich nicht umhin, mir auch ihr neues Jugendbuch „Wild“ vorzunehmen. Anders als in Magyria, wo Klassens Protagonisten zwischen dem Hier und einer Fantasy-Welt pendeln, zeichnet sie mit „Wild“ eine furiose Dystopie:

Ein Leben auf einer rosa Wolke: Stets glücklich und zufrieden sein, nichts hinterfragen müssen, einfach nur das machen, was von einem erwartet wird und damit die Gesellschaft nicht mit wilden, gar animalischen Gefühlen gefährden. Die Welt dreht sich langsamer in Neustadt, die natürlichen Instinkte sind stumpf: Dank einer regelmäßigen Glücksinjektion, die die Menschheit vor ihrem unvorhersehbaren, rohen Verhalten verschont. Schmerz, Wut, Neid, Krankheit oder gar Kummer sind ein Fremdwort.  Wie könnte es auch anders sein, die Gesellschaft strebt nach Perfektion, nach Schönheit, nach Vollkommenheit. Auf den natürlichen genetischen Zufall zu setzten, wenn ein neues Leben entsteht, das müssen die Reichen deshalb schon lange nicht mehr. Denn so kann man wie in Peas Fall nur ein mittelmäßiges Ergebnis erzielen. Peas scheint nicht nur äußerlich mit den Gleichaltrigen kaum mithalten zu können, sie ist auch nicht so glücklich wie ihre Freunde, verfügt über wenig Talent. Wen wundert es da, dass ihr immer noch kein Partner zugeteilt wurde und ihre Liebe zu Lucky nur ein unerfülltes Sehnen bleibt. Doch als von einem Tag auf den anderen durch einen Zufall die Glücksdroge versagt und Peas Blick durch die rosarote Brille sich schärft, will sie ihr selbstbestimmtes Leben, in dem sie fühlt, schmeckt, atmet und vor allem klar denkt, nicht mehr aufgeben … Doch das bringt unvorstellbare Konsequenzen mit sich, den das System arbeitet anders, als den glücklichen Neustädtern vorgegaukelt wird.

Lena Klassen hat mit ihrem Roman „Wild“ das Rad nicht ganz neu erfunden. Parallelen zu anderen Dystopien wie z.B. Cassia & Ky fallen klar ins Auge. Dennoch hat sie es geschafft eine Zukunftsvision zu erschaffen, die in meinen Augen durchaus lesenswert ist und stolz den Vergleich mit den berühmten Vertreter des Genres standhält.

Das liegt vor allem an dem absolut unerwarteten und für Jugendromane unkonventionellen Schluss. Ohne hier vorzugreifen, kann ich den Lesern versprechen, dass sie mit solch einem Ende nicht rechnen werden. Überhaupt ist es der zweite Teil des Romans, der in den Bann zieht, der überrascht und immer wieder erschüttert. Die erste Hälfte des Buches ist aus meiner Sicht dagegen an manchen Stellen zu langatmig und auch nicht immer überzeugend. Vor allem die Liebesgeschichte zwischen Peas und Lucky ist es, die mich nicht einnehmen konnte, zu blass ist sie, zu wenig leidenschaftlich, zu wenig „wild“! (Ganz davon zu schweigen, dass meine Erwartungen nach dem eingangs erwähnten Mattim und Hanna-Kuss Welten höher liegen)

Mittlerweile denke ich jedoch, dass dies ein Kunstgriff von Frau Klassen war, um den verwirrenden Emotionen Peas – gerade was andere männliche Figuren angeht – mehr Zündstoff zu geben.

Dies ist Lena Klassen durchaus gelungen. Ich hungere nach einem zweiten Teil und würde liebend gerne lesen, ob die Geschichte aus ihrer Feder so weitererzählt wird, wie ich sie in meinem Kopf weitergesponnen habe. Denn, lieber Leser, das Ende von „Wild“ schreit nach einer Fortsetzung.

Leseprobe „Wild“ von Lena Klassen

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Dark Canopy

Jennifer Benkau
Verlag:
Script 5
Gebundene Ausgabe:
528 Seiten
Erscheinungsdatum: 1. März 2012
ISBN: 978-3-8390-0144-8

Dystopien haben Hochkonjunktur. Schon vor mehreren Jahrzehnten haben Autoren wie Aldous Huxley („Brave New World“, 1932) oder George Orwell („1984“, 1949) mit Romanen, die in einer negativen erfundenen Gesellschaft spielen, Furore gemacht. Heute hat der Hype um die Anti-Utopien, in denen individulle Rechte mit Füßen getreten werden und Krieg und Unterdrückung herrschen, beinahe jedes Jugendzimmer erreicht.

Auch „Dark Canopy“ von Jennifer Benkau nimmt den Leser mit auf eine Reise in die Zukunft, in der die Menschen unterjocht werden und in Angst und Schrecken leben. Die Percents, künstlich geschaffene Soldaten, haben die Weltherrschaft übernommen. Als „Kampfmaschinen“ für den 3. Weltkrieg gezüchtet, sind sie den Menschen körperlich weit überlegen. Doch sie haben einen Feind: Das Sonnenlicht verbrennt ihre Haut. Aus diesem Grund wurde die Welt verdunkelt. Tag ein, Tag aus schleudert eine Maschine Staub in die Atmosphäre und hat der Bevölkerung nicht nur das Licht, sondern auch den Lebensmut genommen. Ein Dasein in Resignation ist „graue Realität“. In dieser Welt wächst die 20-jährige Joy auf. Sie jedoch gehört zu den Wenigen, die sich den Unterdrückern widersetzen und außerhalb der Stadtmauern wohnen. Joy ist als Freiheitskämpfern auf ein Leben im Untergrund geschult. Dennoch fällt auch sie eines Tages den Percents in die Hände und damit ist ihr Schicksal besiegelt. Als Soldatin für die jährlich stattfindende Menschenjagd auserkoren, bleibt ihr nur die Aussicht auf einen grausamen Tod oder bestenfalls eine Zukunft als Gebärmaschine im Zuchtprogramm der Percents … Doch gerade unter den Feinden gibt es jemanden, der dieses Schicksal nicht akzeptieren will und damit sein eigenes besiegelt!

Schon als ich den Plot von Jennifer Benaus Roman gelesen habe, war klar, dass „Dark Canopy“ Potential hat und mir ein nettes Lesewochenende bescheren wird.  „Nett“ ist jedoch weit gefehlt! „Dark Canopy“ hat nicht „nur“ Potential, der Roman hat mich gepackt und nicht mehr losgelassen. Noch immer, während ich dies schreibe, bin ich gefangen von dem Zauber, der Benkaus‘ Dystopie innewohnt. Dieser Zauber wohnt zwischen den Zeilen, zwischen den Figuren, zwischen Joy und Neel.

Er ergibt sich aber in erster Linie daraus, dass „Dark Canopy“ mich überrascht hat. Das Buch folgt nämlich nicht hundertprozentig dem gängigen Muster eines Jugendromans. Zwar bedient sich Benkau auch typischen Erfolgszutaten und hat die Geschichte um eine unmögliche Liebe zwischen Feinden in einer dystopisch geprägten Welt als Fortsetzungsroman angelegt. Dennoch ist „Dark Canopy“ anders: Der Roman ist grausamer, düsterer, spannender und  begnügt sich nicht in typischer Jugendroman-Manier mit dem ersten Kuss und „übermoralisierenden“ Botschaften. Wo Gewalt sonst nur angedeutet wird, liest man von einem „eingetretenen Brustkorb“ auf dem Gehweg, von „blutverklebtem Haar“ und fehlenden „Schädelrückseiten“. Man liest von Trauer und Schmerz, von Menschen die brechen und verzweifeln, von Tränen, Tod und Resignation, von Vergewaltigung, Schuld und Enttäuschung. Man liest aber auch von unverhoffter Freundschaft, von Hoffnung, von Widerstand, Versöhnung und von Liebe. Zu verwechseln ist diese Liebe jedoch nicht mit dem so weit verbreiteten Kitsch. Es ist eine Liebe gewachsen in Zeiten des Krieges, ungewollt, lästig, gefährlich: „Wenn ich eine Wahl hätte, wärst Du mir egal“,  heißt es da, doch gibt es keine Wahl, wenn die Gefühle zuschlagen. Und deshalb „muss man manchmal etwas riskieren, ohne hundertprozentig zu wissen, wie es ausgeht.“

Dass Benkau diese Zeilen aus der Mitte des Buches mehr als nur zufällig gewählt hat, wird gegen Ende von „Dark Canopy“ klar. Die letzten 50 Seiten des Romans ähneln einem Ritt in die Hölle. Noch immer kann ich die Angst riechen, die alles umgibt, noch immer stockt mein Atem, noch immer fliegen die Bilder hastig vor meinem inneren Auge vorbei und noch immer hämmert die Einsicht des Romans in meinem Kopf: „Sie waren alle gleich“, Unterdrückte wie Unterdrücker!

„Dark Canopy“ ist nichts für „schwache Nerven“ und für Leser, die erwarten, dass am Ende alles gut ist. Allen anderen sei der Roman mehr als empfohlen: spitzzüngige Dialoge, die nicht nur einmal zum Schmunzeln bringen, elektrisierende Spannung und eine berührende Liebesgeschichte machen den Reiz von „Dark Canopy“ aus! Die Fortsetzung soll im Frühjahr 2013 erscheinen, doch Dark Canopy lässt sich bestens als Einzelroman lesen.

Für mich bisher die beste Dystopie des Jahres!

Leseprobe von „Dark Canopy“

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Die Stadt der verschwundenen Kinder

Caragh O ‚ Brien
Gebundene Ausgabe:
464 Seiten
Verlag:
Heyne Verlag
Erscheinungsdatum: 24. Januar 2011
ISBN: 978-3453528000
Originaltitel:
 Birthmarked

Ich habe das Bild einer Gebärenden vor Augen, schweißüberströmt in einer Hütte liegend. Sie ist unendlich erschöpft, doch gleich hat sie es geschafft. Nur noch die letzen Wehen, dann der erlösende Schrei des Babys. Dann ein neues Bild. Gaia, die Hebamme mit dem kleinen Bündel im Arm, das Klappern ihrer Sohlen in den Gassen. Schnell, schneller, nur noch 10 Minuten. Sie hastet dahin, fliegt der Mauer entgegen, das neue Leben geborgen an ihrem Herzen. Der Mond geht auf, schon sieht sie die Lichter der Stadt. Die Minuten verrinnen, kaum noch Zeit. Doch dann erreicht sie die Wache. Ein Blick auf die Uhr. Das warme Bündel wandert in offene Arme, ein Augenblick, dann schließt sich das Tor.

So fulminant erlebt man den Einstieg des Romans „Die Stadt der verschwundenen Kinder“ – hier mit wenigen Worten aus meiner Erinnerung zusammengefasst. Nach diesem verheißungsvollem Auftakt war ich in Hochstimmung und äußert gespannt, ob auch der weitere Teil der Geschichte die hohe Messlatte halten kann – Kurzum: Der erste Roman aus Caragh O´Briens Jugendbuchtriologie hat meine Erwartungen übertroffen.  Selten  hat man ein Buch in der Hand, bei dem schon die ersten Zeilen nachklingen und im Handumdrehen für Kopfkino der Extraklasse sorgen. Der Leser ist von Beginn an mitten im Geschehen, ahnt, dass sich bereits in der eben geschilderten ersten Szene Bedeutendes ereignet. Gleichzeitig ist er jedoch verunsichert und liest wachsam weiter. Man kann sich nur schwer verorten, glaubt sich im Mittelalter. Doch weit gefehlt! Erst im Kontext lassen sich Zeit und Raum erschließen.

Die junge Hebamme Gaia lebt zwar in mittelalterlichen Verhältnissen, doch in ferner Zukunft. Aufgrund von Klimakatastrophen hat sich die Welt verändert. Kaum Vegetation, die Rohstoffe sind denkbar knapp, fließendes Wasser und Strom ist Luxus einer längst vergangenen Zeit. Zumindest für die Bewohner außerhalb der Mauern. Die Stadt selbst ist als Enklave organsiert: Abgeschlossen und auf einem vermeintlich höheren Entwicklungsstand. Doch trotzdem sind die privilegierten Stadtbewohner auf die Neugeborenen außerhalb der Mauer angewiesen. Jeden Monat müssen Gaia und ihre Mutter auf Anordnung der Enklave die ersten drei Neugeborenen abgeben – innerhalb einer vorgegebenen Zeitspanne von ein bisschen mehr als einer Stunde nach der jeweiligen Geburt. Gaias Mutter erfüllt diese Pflicht gewissenhaft – auch wenn es nicht einfach ist, den Müttern ihre Kinder zu entreißen. Doch trotzdem werden Gaias Eltern plötzlich ohne Vorwarnung verhaftet und in die Enklave verschleppt. Ab diesem Zeitpunkt beginnt Gaias  rasante und abenteuerliche Suche nach ihren Eltern, bei der sie mehr als einmal nur knapp dem Tod entrinnt. Doch um ihre Eltern zu befreien, muss sie den brisanten Geheimnissen auf die Spur kommen, die ihre Mutter mit allen Mitteln vor der Enklave zu verhüten versucht…

Die Stadt der verwunschenen Kinder hat alles, was sich der passionierte Dystopie-Leser wünscht: Einen spannungsgeladenen Plot und natürlich eine Protagonistin, die in einer überkommenen und sich entfremdeten Gesellschaft mit all ihren Kräften gegen die sozialen Repressionen und für ein letztes bisschen Menschlichkeit kämpft – Das Leben zuerst! Der Leser verfolgt außer Atem jeden Schritt Gaias und erlebt dabei eine Ausnahme-Heldin. Wie üblich eine Schönheit? Nein, O´Brien sei Dank lesen wir endlich einmal, dass man nicht perfekt sein muss – in Gaias Fall durch ein vernarbtes Gesicht entstellt – um auf der Jugendbuchbühne die Hauptrolle zu ergattern und – ein Herz zu erobern. Denn natürlich gehört zu einer guten Geschichte  auch ein Hauch Romantik.

Caragh O´ Briens Roman „Die Stadt der verschwundenen Kinder“ ist das vielleicht beste Jugendbuch, das ich seit Langem gelesen habe. Ich freue mich auf jeden Satz des Nachfolgeromans „Das Land der verlorenen Träume“ !

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Rezension „Das Land der verlorenen Träume
Teil 2 von Caragh O’ Briens Trilogie

 

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