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Sag nicht, dass du Angst hast

Sag nicht dass du Angst hast von Giuseppe CatozzellaGiuseppe Catozzella
Verlag: Albrecht Knaus Verlag
Erscheinungstag: 18. August 2014
Seitenzahl der Printausgabe: 257

Wie muss es sich angefühlt haben, eine Geschichte aufzuschreiben, Wort für Wort, Zeile für Zeile, die so voller Hoffnung ist? Eine Geschichte, deren trauriges und unveränderliches Ende dennoch von Beginn an feststand.

Wie wird es sich anfühlen, die Geschichte des hoffnungsvollen Mädchens zu lesen? Mit dem Wissen, dass ihre Hoffnung dazu verurteilt ist zu sterben.

Wie muss sich für das hoffnungsvolle Mädchen wohl genau dieser Moment angefühlt haben? Die Sekunde, in der ihr bewusst wurde, dass alles umsonst gewesen ist. Als ihre Hoffnung auf ein besseres Leben schwand. Als sie langsam unterging. Und nichts zurückblieb. Nicht einmal sie selbst.

Die Geschichte „Sag nicht, dass du Angst hast“, von Giuseppe Catozzella führt unweigerlich dazu, dass sich der Leser Fragen stellt. Nicht nur jene, die ich gerade genannt habe. Noch viele weitere. Und das ist nicht verwunderlich.

Aus Sicht vieler Bewohner der „Feste Europas“, jenes sicheren, so verheißungsvollen Fleckchen Erde, sind die Dramen, die sich vor ihren Mauern abspielen, ein großes Fragezeichen. Zwar hören wir  in den Nachrichten von den vielen Glücklosen, die im Mittelmeer ihr Ende finden, kurz vor dem vermeintlich sicheren Hafen. Aber was wissen wir wirklich über diese Menschen? Was wissen wir über den Hintergrund ihrer Flucht? Was wissen wir über die Situation in ihren Heimatländern? Was wissen wir über ihre Ängste, ihr Strapazen, ihre Hoffnungen? Was wissen wir darüber, was sie alles riskiert haben für die Aussicht auf ein besseren Leben? Die Antwort ist kurz: Wenn überhaupt, wissen wir wenig, so gut wie nichts.

Und genau das will Guiseppe Catozzella mit seinem Roman „Sag nicht, dass du Angst hast“ ändern. Das Außerordentliche an dem Buch besteht darin, dass er die Flüchtlingsthematik nicht in einer Dokumentation aufarbeitet, die Fakten an Fakten reiht, sondern als Darstellungsform einen Roman gewählt hat: Einen Roman, erzählt aus der Ich-Perspektive. Damit schlägt er zwei Fliegen mit einer Klappe. Catozzella gibt den Lesern die Möglichkeit, sich mit der Geschichte zu identifizieren, sie nachzuempfinden. Er durchbricht die sichere Distanz, die Dokumentationen anhaftet und verzichtet auf den „gehobenen Zeigerfinger“, der sich in mach Sozialreportage zu nachdrücklich auf die Leser richtet. Und noch wichtiger: Mithilfe des Romans gibt Catozzella seiner Protagonistin Samia und allen anderen namenlosen Flüchtlingen ein Gesicht und eine Stimme.

In „Sag nicht, dass du Angst hast“ erzählt der italienische Journalist die Lebensgeschichte der jungen Somalierin Samia, die Zeit ihres Lebens gekämpft hat: Nämlich dafür, ihrer Bestimmung zu folgen und zu laufen. Als Samia 2008 bei den Olympischen Spielen angetreten ist, ging ihr Gesicht um die Welt. Denn was hätte sich besser geeignet, um die westlichen Gemüter anzurühren, als das Märchen von der kleinen Läuferin aus dem Krisenland, dünn wir ein Ast, die die Herzen im Sturm eroberte, als sie als letzte ins Ziel gelaufen kam. Samia hatte schon damals keine Chance zu gewinnen. Wie sollte sie auch – ohne professionelles Training, ohne Muskelmasse, ohne vernünftige Ernährung, ohne Perspektive. Und auch später, als es nicht nur um den Sieg bei einem Sportwettbewerb, sondern um ein besseres Leben ging, war sie so gut wie chancenlos. Dennoch wollte sie ihr Schicksal nicht hinnehmen. Die „kleine Kriegerin“ hat den weiten Weg auf sich genommen, um ihren Traum zu verwirklichen: Sie wollte laufen, sie wollte leben, frei von Zwängen, und hat letztlich dafür ihr Leben gegeben.

Eingangs habe ich gefragt, wie es sich wohl anfühlen würde, über sie zu lesen. Über das hoffnungsvolle Mädchen, dessen Träume am Schluss mit ihr selbst untergingen.

Insgesamt, so weiß ich heute, Tage nach Ende der Lektüre, war es seltsam bereichernd. Denn Samias Geschichte hat das geschafft, was die wenigsten vermögen: Sie arbeitet in mir nach, lässt mich nicht los. Ich erzähle viel über dieses Buch, denke immer wieder daran. Bin froh über die neue Perspektive, die ich gewonnen habe: Einen Blick auf das mir so fremde Somalia und dessen Menschen. Einen Blick auf deren Alltag, die ausgelassenen und fröhlichen Stunden, die immer weniger wurden. Einen Blick auf das so tapfere, Mädchen, das wahrlich den Beinamen „kleine Kriegerin“ verdient. Natürlich war die Lektüre auch traurig und aufwühlend. Vor allem das letzte Drittel des Romans, die monatelange Flucht, von einem Ort zum nächsten. Das ständige Warten. Die Enge. Die Verzweiflung. Das Schwinden der Hoffnung. Der Teil, in dem Samia sich nicht mehr als Mensch fühlte. In dem sie ihre Würde, ihre Rechte verlor, der Willkür der Schlepper völlig ausgeliefert war. Doch es war wichtig, auch diesen dunklen Teil gelesen zu haben, der dem Autor eine schriftstellerische Höchstleistung abverlangte. Denn er gibt Einblick in eine Realität, vor der wir die Augen nicht verschließen sollten.

Ich bin froh, dass Guiseppe Catozzella sich dafür entschieden hat die Geschichte von Samia Yusuf Omar zu recherchieren, auch wenn die Arbeit an diesem Roman sicherlich nicht einfach war. Sie hat sich mehr als gelohnt. Schon 2008 bei den Olympischen Spielen konnte das dünne, somalische Mädchen, das kein Mitleid wollte, die Menschen vor ihren Fernsehgeräten bezaubern. Und das tut sie wieder – in diesem Buch. Ihr kurzer Ausflug ins Blitzlichtgewitter konnte ihr Schicksal nicht ändern. Aber zumindest lenkt es – hier festgehalten – die Aufmerksamkeit auf jene Namenlosen, die noch immer Tag für Tag vor Europa stranden.

 

 

 

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Der Kuss des Wandlers

Der Kuss des WandlersLena Klassen
Format: Kindle Edition
Seitenzahl: 412 Seiten

Herzensprojekt – so hat Lena Klassen ihre neue Reihe „Die Wandler“ auf ihrem Blog bezeichnet – und damit meine Neugier geweckt. Wie könnte man auch nicht hellhörig werden, wenn eine durchaus produktive Schriftstellerin davon spricht, dass ihr ein Werk besonders am Herzen liegt.

Was macht es aus, dieses Herzensprojekt, habe ich mich gefragt und nicht lange gefackelt. Gespannt und mit nicht geringer Erwartung habe ich mich auf einen Streifzug durch „Der Kuss des Wandlers“ gemacht, den Auftaktroman der neuen vierbändigen Wandlerreihe.  Meine volle Aufmerksamkeit war dem Buch  gewiss. Denn ich wollte ihn spüren, den Puls der Geschichte.

Bevor ich zu den Einzelheiten meiner Spurensuche komme, sei eines vorweggenommen:“Der Kuss des Wandlers“ ist ein Wohlfühlbuch. Wohlfühlbuch deshalb, weil Lena Klassen auf genau die richtigen Zutaten gesetzt hat: Magie, Romantik und Spannung sind es, die zu gleichen Teilen den Roman ausmachen und wohldosiert genau an den richtigen Stellen ihre Wirkung entfalten.

Müsste man den Roman jedoch inhaltlich auf den Punkt bringen, dann kommt man nicht um den Begriff „Verwandlung“ herum. Denn allem voran ist die Geschichte um die junge Geigerin Kiara, die sich in ihren Erzfeid verliebt, die Geschichte einer Wandlung. Wandlung nicht nur deshalb, weil Kiara Kraft ihrer Geburt das Potenzial hat, in eine andere Gestalt zu schlüpfen – wie der Leser schon nach wenigen Seiten erfährt. Sondern weil sie sich im Laufe des Romans von der ewig durchschnittlichen grauen Maus „sprichwörtlich“ in einen Schmetterling verwandelt.

Doch dieser Weg ist steinig. Kiara wird zum Spielball in einem erbitterten Kampf, bei dem es um Leben um Tod geht und die Grenzen verwischen. Wer ist Freund? Wer ist Feind? Wem kann sie trauen? Und welche Augen sind es, die von Liebe erzählen? Ist es das strahlende lichte Blau, für das Kiaras Herz schlägt? Oder doch das nachtschwarze Dunkel, in dem sie sich zu verlieren scheint? Auf der Suche nach dem König des Feindesclans findet die 16-jährige nicht nur Abgründe und Hass, Zweifel und Gewissheit, sondern auch sich selbst.

Soviel zum Inhalt, von dem ich nicht mehr verraten werde. Doch wo pocht er nun, der Puls der Geschichte. Was macht die Kraft des Romans aus?

Ist es die eigentümliche Magie, die im Akt der Verwandlung selbst liegt? Denn was könnte schöner sein, als Kiara und all die anderen jungen Wandler dabei zu beobachten, wie sich die Grenzen ihrer Körpers auflösen, aufgehen in einem Sein, das jeher in ihnen geschlummert hat. Zuzuhören, wie sie einem stillen Ruf folgen, wie sie lernen, dem Takt ihres Herzens zu lauschen? Zuzusehen, wie Kinderträume wahr werden und Kiara abhebt und die Lüfte erobert?

Oder ist es das Grauen, das immer wieder wie Spinnenbeine über die nackte Haut huscht, wenn offenbar wird, welch menschliche Abgründe sich auftun können – in Freunden, in Vertrauten, in ganz gewöhnlichen Jugendlichen. Wenn deutlich wird, dass Moral und Unrechtsbewusstsein mit einem Fingerschnippen ihre Bedeutung verlieren, wenn der Wille zur Macht sich wie eine Krankheit ausbreitet und mehr wiegt, als ein Menschenleben. Wenn ein reiner Verdacht reicht, um aus dem Fenster geworfen zu werden …

Vielleicht ist es weder Magie noch Grauen, sondern die wunderbare Kulisse, vor der sich Kiaras Geschichte abspielt. Vielleicht ist es das faszinierende Prag, das Lena Klassen vor den Augen der Leser auferstehen lässt. Das Pulsieren der Metropole im Osten Europas. Denn wie bei den glühenden Streifzüge durch Budapest in Klassens Roman „Magyria“, hört man auch in Prag an jeder Ecke das Wispern der Geschichte, das Echo der Jahrhunderte, das Flüstern einer jungen Liebe …

Ob andere sich bei der Lektüre von „Der Kuss des Wandlers“ genauso wohl fühlen wie ich, ist nicht gewiss und lässt sich nicht abschließend beantworten. Genauso wie jeder den Puls einer Geschichte an einer anderen Stelle fühlt.

Für mich hat er zu schlagen begonnen, als ich Kafka in der Geschichte gespürt habe, einen Autor, der mich seit jeher fasziniert. Und als mir klar wurde, dass in der Selbstaufgabe und Selbstentfremdung Gregor Samsas der Schlüssel des Romans liegt. Die Frage ist nur, was hier zuerst da war. Die Idee, auf Kafkas Werk „Die Verwandlung“ einen Fantasie-Roman aufzubauen.  Oder die Idee von den Wandlern selbst.

Kafka hat es Zeit seines Lebens nicht geschafft aus seiner Haut zu schlüpfen und sich zu befreien. Genauso wie sein verwandelter Protagonist Gregor Samsa. Hier verlässt Klassen den vorgezeichneten Weg. Sie lässt ihren Protagonisten nicht untergehen. Gottseidank.

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