Das Mädchen mit den gläsernen Füßen

Ali Shaw
Verlag:
script5
Erscheinungstermin: 9. Januar 2012
Gebundene Ausgabe:
400 Seiten
ISBN:
978-3-8390-0131-8
Originaltitel:
The Girl With Glass Feet

Greift der Leser auf Bucherscheinungen aus dem Imprint Scrpit5 des Hauses Loewe zurück, tut er dies mit einer gewissen Erwartungshaltung. Mir zumindest geht es so, als ich nach Titeln von den script5-Autoren Belitz und Stiefvater nun Ali Shaws Debütroman „Das Mädchen mit den gläsernen Füßen“ in Händen halte.  Ein Blick auf das Cover, das selbst ein eigenes Kunstwerk ist und sich dieses Mal sogar durch einen silbernen Schnitt hervorhebt, bestätigt sogleich meine Erfahrung:  Hier wird mich eine typische Mädchen-Fantasybuch-Variation erwarten.

Die verschnörkelte, poetische Sprache, die sich hingebungsvoll und ungestört einer ausgeschmückten Beschreibung der Natur widmet, beirrt mich noch nicht in meiner zugegebenermaßen vorschnell getroffen Genre-Einordnung,  und siehe da! Nach wenigen Seiten lassen sich bereits die ersten erwarteten phantastischen Spuren entdecken:  Ida, die junge weibliche Hauptfigur erfährt, dass auf der Insel St. Hauda’s Land auf dem Grund der Sümpfe gläserne Körper verborgen liegen sollen, während im Moor geheimnisvolle Ochsenmotten, Kühe mit Schmetterlingsflügel, umherschwirren.  Diese Information ist für Ida sehr bedeutungsvoll, den sie sucht beim Hüter dieser Geheimnisse Hilfe – schließlich beginnen ihre Füße sich selbst in Glas zu verwandeln. Und der männliche Held, der bei einer solchen Geschichte immer mit von der Partie ist, ist mit dem Einzelgänger Midas – Idas einheimische Unterstützung bei ihrem schwierigen Unterfangen, denn die Suche entpuppt sich als Nadel im Heuhaufen – auch gefunden.

Doch hier mache ich abrupt Schluss mit meinem Schubladendenken; denn zu meinem angenehmen Erstaunen wird nach weiteren Seiten deutlich, dass die Geschichte um das gläserne Mädchen Ida nicht ins Raster der Jugendbuchwelle á la Stephenie Meyer passt:

Den Leser erwarten kein spannungsreiches Abenteuer, keine rasanten Wendungen, keine eigentliche Romanze gewürzt mit Neckerei, Witz, zärtlichen Momenten und Action-Szenen und ganz bestimmt auch kein attraktiver, aber gefährlicher Mädchenschwarm! Die Handlung ist mit Idas Suche nach Heilung bereits erklärt.

Aber wie das Sprichwort schon sagt, kann weniger manchmal viel mehr sein. Und so verhält es sich auf großartige Weise bei Ali Shaws Roman. Was der junge Autor niedergeschrieben hat, ist kein großes Kino, sondern sind leise Zwischentöne. Eine stille, unaufgeregte Geschichte, die ohne, dass es der Leser merkt, zu den Tiefen der menschlichen Seele vordringt und somit einen unvergesslichen Eindruck hinterlässt.

Tragende Elemente sind dabei die Natur, geheimnisvolle Märchenelemente und die inneren Gefühle, Zustände und Prozesse der Figuren. Dabei ist es wider Erwarten nicht Idas, sondern Midas verlorenes Seelengemälde, das in langsamen Pinselstrichen gezeichnet wird. Midas ist die Hauptfigur des Romans, und nur vordergründig geht es darum, Ida vor der Verwandlung zum Glas zu retten. Die eigentliche Geschichte hinter der Geschichte ist die Rettung Midas durch Ida, die Befreiung desselben von seinen inneren Dämonen.

Der verschrobene Midas sieht die Welt nur durch sein Kameraobjektiv: kleine Ausschnitte, scharf gezeichnet. Der Blick auf das große Ganze, auf das, was nicht eingefangen werden kann, ist ihm fremd. Er versteckt sich hinter seinen Bildern. Warum das so ist, erfährt der Leser indirekt und Schritt für Schritt durch Episoden –  teils aus  anderen Zeitebenen  – über vier weitere Personen: Midas Eltern, dem Liebhaber seiner Mutter und dem früheren Kommilitonen und Verehrer von Idas Mutter. Diese Figuren haben viel Raum im Geschehen, dienen letztlich jedoch nur dazu, den Ursprung von Midas Problem und seine Weiterentwicklung zu skizzieren und charakterisieren. Midas ist gefangen im Jetzt, jedoch begibt sich Ida durch ihre ehrliche Annäherung an ihn auf die Suche nach seinem Innersten. Midas hingegen sucht parallel – und immer verzweifelter – nach einem Heilmittel für Idas Verwandlung, die wie ein Symbol für den Kampf gegen eine unheilbare Krankheit anmutet. Je weiter die Handlung verläuft, wird deutlich, dass nur einer der beiden, die ineinander ihr Glück gefunden haben, erfolgreich sein wird. Denn während Midas Seele durch Ida gesundet, scheint bei Idas Verwandlung der Kampf gegen die Zeit verloren zu gehen …

Kern des Romans ist jedoch alleine Midas langwieriger und schwieriger Weg zur Selbstfindung, geführt und angeleitet durch Ida. Und nun lässt sich dieses besondere Buch doch eindeutig in ein Genre einordnen, aber ganz anders als erwartet. „Das Mädchen mit den gläsernen Füßen“ ist ein Juwel  jenseits seiner Zeit, ein Werk, gemeißelt in der Tradition der längst vergessenen Epoche der Romantik :

Übersinnliche Märchen-Elemente, gewaltige Naturbeschreibungen und kunstvolle Sprache bilden den Rahmen für die Geschichte um die männliche Hauptfigur, auf dem inneren Weg zu sich Selbst. Das Heil bringt letztlich ein Mädchen … und zwar auf solch untypische und anrührende Weise, dass der Leser am Ende des Buches aufgewühlt und  ungläubig zurückbleibt.

Ob dies jedermanns Geschmack trifft (meinen definitiv ungemein), bleibt ungewiss, garantiert jedoch vergisst niemand die ungewöhnliche Geschichte wieder!!!!

Anmerkung zur Epoche Romatik (1795-1848):
Die Epoche der Romantik wird von Sehnsuchtsmotiven und den Themen Liebe und Natur geprägt. Die Grundthemen der Romantik sind Gefühle, Individualität, Leidenschaft und die Seele als Gegesatz zur vernuftbetonten Aufklärung.
Zudem haben die deutschen Romantiker (besonders die Gebrüder Grimm) die Wissenschaft der deutschsprachigen Philologie (die Sprach- und Literaturwissenschaft) gegründet, da sie sich für volkstümliche Literatur und Kultur interessierten und erklären wollten, wie sich die deutsche Sprache seit den frühsten Zeiten entwickelt hat.
Die wichtigsten Vetrter sind E.T.A. Hoffmann, Joseph von Eichendorff, Novalis, Brentano und Heinrich von Kleist. Deutlich geprägt von der Romatik ist jedoch auch das Werk späterer Dichter wie beispielsweise Hermann Hesse.

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